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Essay: Appell An Die Philosophie

Ein Versuch...

© Paul Wiedenmann  (2015)


01.Februar 2025

Wir warteten ab. Wir? Wir waren die obere Mittelschicht. 


Hoher Bildungsgrad, stabiles Lebensumfeld, gesunder Menschenverstand wohnte uns scheinbar inne. 


Anwälte, Unternehmer, Berater, höhere Angestellte. Wir genossen die Vorteile des Systems, verdienten Geld und gründeten Familien. Aber wir leisteten nichts. Zumindest nicht für die Menschlichkeit.


Ja, wir vermehrten uns, zahlten Steuern, schafften Jobs und gingen wählen. Aber wir leisteten nicht das, was wir bereit gewesen wären zu leisten, wenn wir das Gefühl gehabt hätten das Richtige zu tun. Ein diffuses Gefühl sagte uns, dass etwas Übergeordnetes falsch läuft. Und genau das drängte uns zum egoistischen Kampf. Jeder für sein eigenes Wohl, gegen die Menschlichkeit – und schlussendlich auch gegen sich selbst. Wir zweifelten und fühlten uns gleichzeitig schuldig. Doch wir hatten keine alternativen Ideen. Darum warteten wir nur ab.


Ein immer größer werdender Teil unserer Leistung bestand irgendwann darin, unsere Bedenken zu ignorieren und den Wunsch nach Veränderung zu unterdrücken. Denn es ging uns doch vergleichsweise gut. Der stillen Gewalt des Leistungsrucks konnten wir noch etwas mit Können und Expertise entgegensetzen. Also galt weiterhin die Devise: Don´t change a running system. Worauf das System fortlaufend hinausläuft wurde uns nie wirklich bewusst. Es war ein schleichender Prozess. Heute können wir die Frage beantworten. Es rannte in moderne Klassengesellschaften mit systematischer Ausbeutung des Selbst. In omnipräsent drohender Ausgrenzung, Abstiegs- und Existenzangst. In Identitäts-verlust. Und in Orientierungslosigkeit durch Hyperkomplexität. Damit einher gingen Massen-Psychosen und zivilisatorisch subtil wirkende Katastrophen, die langsam aber sicher die Gesellschaft aufspalteten. Unsere Kinder werden uns fragen, wie wir das nicht sehen konnten.


Reich vs. arm, schön vs. noch schöner, gesund vs. kranke, gesetzlich rentenversichert vs. privat vorgesorgt, Privatpatienten vs. Kassenpatienten, Banken vs. Staaten, Politik vs. Wutbürger, Bürger vs. Steuerbescheide, Pegida vs. Islam, IS vs. Islam, Westliche Welt vs. IS, Westliche Welt vs. Russland, Europa vs. Flüchtlinge, Bündnispartner vs. Bündnispartner, Europäer vs. Europäer, Sicherheit vs. Freiheit, ich gegen dich, jeder gegen jeden. Don´t change a running system. Egal wo es hin läuft. Hauptsache Wachstum.


Wir warteten also erst einmal ab und erhielten ein System aufrecht, von dem wir im Prinzip alle überzeugt waren. Wir waren doch aufgeklärte Demokraten und Humanisten. Wann wurden wir derart passiv und entpolitisiert – und weshalb? Aus Bequemlichkeit? Oder aus Angst? Immerhin wussten wir, dass der Kommunismus nicht funktionierte und fürchteten uns davor, wohin uns eine neue Idee womöglich führen könnte? Oder schlicht weil wir in der Hyper-Informationsgesellschaft keine Übersicht über die Zusammenhänge mehr behalten konnten? Weil wir befürchteten in einer Konsensgesellschaf mit Gedanken zu neuen Lebensformen ins gesellschaftliche Aus katapultiert zu werden? Weil die Hyperkomplexität der globalisierten Welt uns schlicht handlungsunfähig fühlen ließ? Weil wir spürten, dass der wirtschaftliche Wachstums-Zwang keine Alternativen zulassen konnte? Wir schwammen verloren zwischen den Zeiten. Darum taten wir einfach gar nichts. Und warteten ab. Unserer eigenen Abstiegsangst hielten wir unsere VIP-Bändchen, Privatclub-Member-Cards und Prestige-Objekte entgegen. Mit dieser Strategie gaukelten wir uns eine eigene Bedeutung in einer überschaubaren Gemeinschaft vor. Doch eigentlich entzogen wir uns dadurch der Gesellschaft. Und das funktionierte gut. Besonders für die Privilegierten. Die noch Privilegierteren entkamen ihrem diffusen unwohl sein, indem sie sich beispielsweise auf dem Land einen alten Bauernhof kauften. In einer Dorf-Gemeinschaft oder mit Freunden (zumindest imaginär) einen Rückzugsort aufbauten. Nach eigenen Plänen, mit eigenen Händen und eigenem Schweiß. Kunst, Musik, Spiele, Familie, Bio-Kost, Dorffeste - einfach nur Leben. Der neue Luxus. Luft und Weite lies sie freier fühlen. Kurzum: Auch sie entzogen sich ihrer Verantwortung der Gesellschaft gegenüber.


Doch eine breite Masse entkam dem diffusen, ungutem Gefühl immer schwerer und schneller als erwartet formierten sich Menschen um einen Ausweg zu suchen. Doch leider die falschen. Extremistische Europäer im Islamischen Staat oder lächerliche Europäer in Dresden. Kurzsichtige Menschen, die sich aufzulehnen versuchten. Planlos gegen irgendetwas Tagesaktuelles. Wir machten uns über sie und ihre formulierten Forderungen lustig. Wir dachten, man müsse sie nicht allzu ernst nehmen. Doch wir irrten. Was wir übersahen war, dass wir selbst ein ganz ähnliches Gefühl in uns trugen wie diese Desillusionierten.  Nämlich die Sorge, im Neoliberalismus irgendwann auch nicht mehr mithalten zu können. Ein Gefühl, das dazu führte, dass wir organisierte Radikale gewähren ließen, als erste ernstzunehmende Aktionen gegen das System begannen. Sie taten das unter dem Vorwand dem System einen „Denkzettel“ zur Besserung zu verpassen – und wir unterstützten sie passiv, indem wir insgeheim eine gewisse Erleichterung bei der Vorstellung verspürten, dass dabei ein „einfacheres“ und sanftmütigeres System und dementsprechende Lebensformen geboren werden könnte. Doch hier irrten wir uns wieder. Für eine solche Geburt hätten wir gemeinsam mit Philosophen eine grundlegende Idee ausbrüten müssen. Im Dialog. Politiker, Bürger und eben Philosophen. Wir hätten der Philosophie mehr Bedeutung, Interesse und Zeit zusprechen müssen. Philosophen hätten im Gegenzug neue und vor allem konkrete Gesellschaftsideen populärwissenschaftlich verpackt formulieren müssen. Gedankenexperimente zur Entwöhnung des scheinbar alternativlosen Damals. Die Technik zur Nutzung der vernetzten, globalen Schwarmintelligenz hätte beispielsweise für eine von Philosophen moderierte Debatte schon zur Verfügung gestanden. So hätte eine alternative Idee im Raum stehen können, zu der wir uns hin entwickelt hätten. Doch stattdessen waren wir damit beschäftigt uns im „altbewährten“ System zu behaupten.


Nun stehen wir da. Die schrecklichen Geschehnisse im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts sind uns allen bekannt. Wir sind schockiert darüber, dass derartiges noch passieren konnte und wir bedauern es unser Potential nicht rechtzeitig genutzt zu haben. Die notwendige Aufklärung und Bildung hätten wir gehabt.


© Paul Wiedenmann (2015)